KOMM, Dueren, 1998

Deutschland - Blick nach draußen

May 17 - June 26, 1998
KOMM, Düren, Germany

 

Jochen Dietrich

Blick nach Draußen, über das Fotografieren an den Grenzen

 

Zu einigen Arbeiten von Thomas Kellner

 

Anlass dieses kurzen Textes war die erste Ausstellung von Kellners Arbeit “Deutschland-Blick nach draußen” 1998 im KOMM in Düren. Wie sonst auch bei derartigen Anlässen bin ich meinem Prinzip gefolgt, möglichst wenig über die Bilder selbst zu sprechen. Nicht etwa, weil ich der Ansicht wäre, die Bilder sprächen für sich selbst. Kein Bild spricht, am wenigsten eine Fotografie. Was sie tun, ist: Verweisen, wiedergeben, spiegeln, abbilden. Nicht sprechen, sondern zeigen. Und tatsächlich bringen wir sie nur zum Sprechen, wenn wir Sprache, wenn wir Diskurse an sie herantragen. Mit welchem Recht aber mein Sprechen darüber so viel wichtiger sein sollte, als das der Betrachter, und warum ich 10 Minuten lang reden und alle anderen schweigen sollten, n, das wollte mir nie so recht einleuchten – jedenfalls dann nicht, wenn es sich lediglich um Sprechen über Bilder handeln sollte, um Lesarten oder Interpretation oder dergleichen.

Der Text, den ich den Arbeiten Kellners mitgeben, der Kon-Text, in den ich sie stellen möchte, soll vielmehr biographischer Natur sein. Das heißt nicht, dass ich Ihnen nun den Künstler vorstellte, bzw. – denn bei solchen Anlässen wird in der Regel die Person mit ihrem Lebenslauf verwechselt – Ihnen eine lange Liste seiner Ausstellungen und Veröffentlichungen vortragen würde. Es gibt die Liste natürlich, und sie ist im Falle Thomas Kellners in der Tat lang. Vielmehr will ich Kapital schlagen aus der Tatsache, dass ich den Autor schon lange persönlich kenne, dass er mein Freund ist, ich seit Jahren immer wieder mit ihm zusammengearbeitet habe und schließlich auch das Deutschland-Projekt seit seinen Anfängen mitverfolgen konnte. Von diesem Ort her zu sprechen, halte ich nicht zuletzt deshalb für sinnvoll, da mit den Katalogtexten der Herren Amelunxen und Hellental bereits zwei, wie ich finde, hervorragende Versuche vorliegen, von anderen Beobachterstandorten aus Perspektiven auf Kellners Arbeit hin zu entwickeln2: Dr. Markus Hellental war im Winter 1997, d.h. während der Entstehungszeit des Blicks nach draußen, Direktor im BGS, der Behörde, die das Fotografieren an Grenzen in der Regel verbietet und nur in Ausnahmen – für Künstler und andere mutmaßlich harmlose Spinner – genehmigt. Er stellt Thomas’ Arbeit in den Zusammenhang einer Reflexion über die sich wandelnden hoheitlichen Aufgaben angesichts verschwindender Grenzen, und er berührt dabei unwillkürlich wesentliche Theoriebestände des Nachdenkens über Fotografie – als einer Bildform, zu deren Wesen es nach Roland Barthes u. a. gehört, dass sie uns immer schon Gewesenes, Verschwundenes, nicht mehr Präsentes zeigt.

 

Hubertus v. Amelunxen, der Verfasser des anderen Katalogtextes, gilt als einer der führenden Theoretiker der Fotografie in Deutschland. Mit genau entgegengesetzter Perspektive und Gewichtung entwirft er denselben Denkraum wie Hellental: Grenze als Realerfahrung, diesmal aber aus der Sicht des Bürgers, der hier, an den Rändern des Staates, dessen Autorität begegnet; Grenze jedoch auch als Metapher, die mit konzeptioneller Stringenz und in eigenwilliger Bildsprachlichkeit entwickelt zu haben Amelunxen als die eigentliche künstlerische Leistung Kellners wertet.

 

Meine Annäherung also versucht ein Drittes. Sie ist, wie gesagt, biographisch, und sie trägt ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit einige Anmerkungen und Beobachtungen zusammen, oder auch Fragen, die ich jedoch nicht Thomas Kellner stellen will (Künstlergespräche sind – wo ich schon einmal die Vernissagenrituale durchmustere – eine weitere missliebige, aber umso häufigere Praxis), sondern mir. Solche Fragen wären:

Wie kommt einer, den ich eher als unpolitischen Menschen zu kennen glaubte, zu einer derart politischen Thematik? Wie kommt es überhaupt zu einer Thematik, wenn er seinem Herkommen, sozusagen der „Schule“ nach, vielmehr der experimentellen als einer erzählenden oder dokumentierenden Fotografie zugerechnet werden darf? Was war das für eine Reise entlang der deutschen Grenze, allein, in den Monaten März und April des Jahres 1996, bei Schneematsch und Regen, sechstausend Kilometer in 10 Tagen? Für die Jahreszeit zu kühl. Deutschland, ein Wintermärchen ...

 

“... und als ich an die Grenze kam,

fühlt’ ich ein stärkeres Klopfen

in meiner Brust. Ich glaube sogar,

die Augen begunnen zu tropfen... “

 

Ein anderer Bericht, vom Erfinder der Reisebilder, Heinrich Heine. Und schließlich (nach diesem erneuten Exkurs in die Gepflogenheiten der sogenannten Einführenden Worte: das Klassikerzitat), eine letzte, möglicherweise etwas ketzerische Frage: Kommt Kellner zu einem Ergebnis?

 

Die erste Frage mag unverschämt klingen: Wie kann man jemanden unpolitisch nennen? Immerhin hat Thomas Kellner neben Kunst auch Sozialwissenschaften studiert und u.a. in Gewerkschaft und Betriebsräten Engagement bewiesen. Lassen Sie mich daher erklären,wie ich dazu komme, diese Frage zu stellen: Das Deutschland – Projekt steht bislang eher isoliert in Kellners Werk, in dem nach wie vor bildsprachliche Experimente und Formuntersuchungen dominieren. Etwas dezidierter scheint die politische Dimension in einigen früheren Werkgruppen auf, so etwa in den in Asche gesunkenen Landschaften der “tierra quemada”- Reihe und in den “nature morte” betitelten Arbeiten. Jedenfalls dann, wenn man sie, was die nachträglich gefundenen Titel nahe legen, als ökologische Metaphern lesen will. Bei beiden sehe ich jedoch – und dies gilt auch für Deutschland – vordringlich eine Auseinandersetzung, die die politische Dimension zwar berührt, sie jedoch nicht primär bearbeitet, und in keinem Fall liegt der Arbeit eine diskursive Analyse ihrer Thematik zu Grunde. Das meinte ich mit unpolitisch, einem Adjektiv, das – und das muss ich spätestens jetzt richtig stellen – die Qualität mancher Arbeiten Kellners gar nicht erreicht. Thomas ist ein Macher, und seine Art des Engagements, sein Modus einer politischen Zeitgenossenschaft, ist die exzessive Hingabe an seine Projekte. Schon hier bewährt sich die Wahl meines Zugriffs auf den Autor und sein Werk: es ist die biographische Dimension, die uns Zugang zu Kellners Modus des engagiert Seins gewährt: tagelang in brütender Hitze in Nachbarschaft des Waldbrandes leben, tagelang auf winterlichen Straßen ein Bild vom eigenen Land erfahren.

 

Kommen wir zur zweiten Frage: wieso überhaupt so etwas wie Thematik? Es ist dies die Frage nach Kellners Selbstverständnis und seiner – bereits in der Formulierung dieser Frage angedeuteten – Zugehörigkeit zur Gilde der Experimentellen Fotografen. Sie betrifft auch meine eigene Biografie, denn wir haben zusammen und bei demselben Lehrer studiert, bei Jürgen Königs an der Universität-GH Siegen. Königs würde sich sicher heftig wehren, sollte ihm hier unterstellt werden, dass er eine bestimmte Schule innerhalb der Fotografie verträte. Dass in Siegen dennoch vorwiegend experimentell gearbeitet wird, hängt damit zusammen, dass Fotografie dort im Kontext von Kunst betrieben wird (oder, in Anlehnung an eine von Rolf H. Krauss vorgeschlagenen Differenzierung, die Fotografie konzeptionell und nicht konventionell aufgefasst wird3). Zweitens wird das am Siegener Fachbereich stark vertretene prozessuale Konzept künstlerischer Tätigkeit auch auf die Fotografie abgebildet. In diese Art Fotografie sind Thomas Kellner und ich hineingewachsen, und erst als wir ein umfangreiches Kooperationsprojekt u. a. mit einer FH für Fotodesign ins Leben riefen, gerieten wir angesichts neuer Kontexte und anderer Umgangsweisen mit dem Medium in eine weiter greifende Auseinandersetzung mit unserer eigenen Tätigkeit: begrifflich, kategorial, historisch, und manchmal lautstark. Diese Auseinandersetzungen zu referieren ist hier nicht der Ort. Aus dieser Zeit leiten sich jedoch, denke ich, Überlegungen her, die zu einer Revision des experimentellen Konzeptes (zumindest in einer puristischen Auslegung) geführt haben, und die hier ablesbar sind. So ist es nicht mehr die experimentelle Auslotung der Camera obscura und ihrer Bauformen, die wir hier sehen, nicht mehr die mit beinahe wissenschaftlicher Neugier unternommene Erkundung neuer technischer Bilder und ihrer Wahrnehmungsweisen, die einer irgendwie gearteten Thematik über das Experiment hinaus gar nicht bedürfe, sondern die souveräne (das heißt zugleich: in ihrer Gekonntheit nicht mehr experimentelle) Verwendung der CO zu einem bestimmten Zweck. Dieser Zweck ist bildnerisch, und auf ihn verlagert sich das experimentelle Interesse: Kann es gelingen, virtualiter ein ganzes Land in eine Lochkamera zu verwandeln? Und wie sähe das Panorama aus, das sich dem Blick dieser Kamera erschlösse? Was das Vorhaben zum Experiment macht, ist sein offener Ausgang: bevor er losgefahren ist, hatte Thomas Kellner keine Ahnung, ob seine Vorstellung eines Panoramas der Außengrenze Deutschlands realisierbar sein würde.

 

Damit zur nächsten Frage, die nicht nur ihrer Haltung, sondern auch ihrem Ziel nach die eigentlich biografische ist: Was ist das für eine Unternehmen, in 10 Tagen einmal rund um Deutschland zu fahren? Kellner hat mir viel davon erzählt, ich kenne sein Reisetagebuch, die Polaroids, die er an jeder Station gemacht hat, sowie andere Projekte, die im Kontext dieser Arbeit entstanden sind. Ich werde hier nichts davon weitergeben, obwohl ich denke, dass es wert wäre, erzählt zu werden. Ich finde vielmehr das Gedankenspiel interessant, das Kellner anbietet. Zwar setzt er die Friedrich’sche Rückenfigur, unseren Stellvertreter, nicht explizit ins Bild, aber die immer gleiche Anordnung des Blickes – auf die Grenze und ihr „dahinter“, in die Ferne, mit dem Rücken zu Deutschland, zum eigenen Herkommen – diese Inszenierung des Blicks leistet das gleiche. Die streng zentralperspektivische Konstruktion der verwendeten Lochkamera entwickelt eben nicht nur einen eigenartigen Sog in die Tiefe, ins fremde Land, sondern legt umgekehrt auch den Augenpunkt, d. h. unseren Standpunkt, fest. Wo wir sind, das ist: Auf der Grenze. Worauf ich hinauswill: Wann immer ich über das Projekt nachgedacht habe, erschien mir Thomas mit seinen Kameras als eine komplexe Stellvertreterfigur, die etwas tut, was sonst niemand tut – was jedoch nicht bloß als Idee oder Konzept geäußert werden kann, sondern getan werden muss. Erst indem sie biografische Wirklichkeit wird, gewinnt die Idee der Fahrt um ein Land die Kraft, uns zu faszinieren. Hier liegt im Übrigen auch die Verbindung der Kellner´schen Unternehmung zur Land-art, zu den Projekten eines Hamish Fulton oder Richard Long.

 

Zur letzten Frage: Kommt Kellner zu einem Ergebnis? Was kann das sein, ein Ergebnis? Die Antwort müsste, angesichts des nicht vorschnell eingrenzbaren Projektes dieser Deutschlandreise, auf mehreren Ebenen versucht werden. Handelt es sich um dokumentarische Fotografie, wäre ein mögliches Ergebnis die adäquate Beschreibung eines bestimmten Ausschnittes der Wirklichkeit: „Dies ist die deutsche Grenze“. Handelt es sich um experimentelle Fotografie, wäre ein mögliches Ergebnis die Ausweitung dessen, was mit dem fotografischen Material machbar, zeigbar, aussagbar wäre: „Dies ist ein neues Bild“. Auf beiden Ebenen scheinen die Schwierigkeiten enorm: An das Foto als Dokument glaubt nicht erst seit den digitalen Manipulationsmöglichkeiten so recht niemand mehr, und die experimentelle Erkundung der Silberhalogenidfotografie erscheint unserem auf die Historie fixierten Blick als weitgehend abgeschlossen. Ich denke, es gibt einen Ausweg aus diesem Dilemma, und er liegt ungefähr dort, wo Thomas ihn gesucht und (klar, es gibt ein Ergebnis!) gefunden hat: Das Ergebnis, das Auffinden, das Gelingen – es erfolgt im Akt der Grenzüberschreitung, wenn Realismus und Experiment ineinander übergehen: Das Problem des Dokumentarismus liegt darin, dass man nicht über die “Wirklichkeit” reden kann, ohne anzugeben, von welchem Standpunkt aus man das tut. Die Kamera ist eben nicht objektiv, viel weniger der Fotograf, und in jeder Aussage über die “Wirklichkeit” muss dies mit ausgesagt werden. Umgekehrt läuft alle experimentelle Fotografie stets die Gefahr, zu einer unverbindlichen formalistischen Gestalterei zu verkommen, zur Stilübung, wenn sie sich der Referenzialität begibt, ihrer priveligierten Nähe zu den Dingen. Wird jedoch mit einem aus der experimentellen Linie der Fotografie stammendenden Apparat, der Lochkamera, dokumentiert, mehr noch (Kellner zeigt uns die ganze Grenze): wird enzyklopädisch ein Stück Wirklichkeit bearbeitet, gelingt in der Verfremdung, die keinen Zweifel darüber lässt, dass hier mit anderen, sehr spezifischen Augen gesehen wird, plötzlich doch die Abbildung von “Wirklichkeit”.

 

Ich sprach zu Anfang kurz von dem seltsamen, mitunter eines das andere ausschließenden Verhältnis von Text und Fotobild. Dazu abschließend (und nicht sehr systematisch) eine letzte Reise-Geschichte. Thomas Bachler aus Kassel, Praktiker und ab und zu auch Theoretiker der Lochkamera, hat sie uns erzählt. Der schwedische Autor und Dramatiker August Strindberg, zu dessen umfangreichen, zuweilen dilettantisch, immer aber exzessiv betriebenen Aktivitäten auch die Fotografie gehörte, hatte von der neuen Kodak gehört, dem Prototypen der Knipserkamera, die unter dem berühmt gewordenen Slogan „You press the button, we do the rest“ verkauft wurde. Bekanntlich wurde die Kamera bereits werksseitig mit Platten geladen verkauft, so dass man in der Tat nur den Knopf drücken und sodann die Kamera zu seinem Fotohändler bringen musste. Der schickte die Kamera zu Kodak, und nach einiger Zeit erhielt der Kunde seine Aufnahme und die neu geladene Kamera zurück. Strindberg – auf seine Weise sicher auch ein Grenzgänger – war begeistert, bestellte umgehend und unternahm eine Reise durch ganz Schweden, eigens um die Kamera zu erproben. Wie Kellner schrieb auch er Tagebuch, notierte die Widrigkeiten der beschwerlichen Reise, aber auch alle Aufnahmesituationen en detail, seine Motive, die Landschaften, den Himmel, das Wetter. Kurz: Er hinterließ, soweit wir Bachler glauben können, der Strindbergs Papiere in Schweden einsehen konnte4, die überaus poetische Beschreibung einer Fotoreise durch sein Land. Einen Text also, aber: Kein einziges Foto. Warum? Auch vom Verschwinden der Dinge in der Fotografie war eingangs schon die Rede. Ich nehme diesen Faden wieder auf, denn das – wie mir scheint – poetischste Moment der Strindberg’schen Reise ist, das man in Rochester bei Kodak vergessen hatte, ausgerechnet seine Kamera zu laden.

 

1 Bildender Künstler, Fotograf, Kunsterzieher und Erziehungswissenschaftler. Dr.phil. Universität Siegen, Museumspädagoge am Museu da Imagem em Movimento, Leiria, und Prof. Adjunto an der Pädagogischen Hochschule des Instituto Politécnico Coimbra, Portugal

2 Kellner, Thomas: .... Biblio

3 Krauss, Rolf H.: Zehn Thesen zur konventionellen und konzeptionellen Fotografie. 1978/97 oder so, noch genau bibliografieren

4 ein großer Teil der Texte Strindbergs, dia auf die Fotografie Bezug nehmen, findet sich in deutscher Übersetzung bei: Strindberg, August: Verwirrte Sinneseindrücke. Dresden, Verlag der Kunst 1998