VHS Photogalerie, Stuttgart, 2006

Tango Metropolis

June 21 - August 2, 2006
VHS-Photogalerie, Stuttgart, Germany

 

Einleitende Worte von Wolfram Janzer, DFA /DGPh/ VBKW...


Guten Abend...
lieber Thomas Kellner – herzlich willkommen
hier in der VHS-Photogalerie im Zentrum Rotebühlplatz...

herzlich willkommen all Sie,                                                                      
die dem Fernseher und dem Ball den Rücken gekehrt haben...

Rüdiger Flöge und ich hatten Bedenken, heute Abend womöglich mit Thomas Kellner alleine vor seinen Bildern zu stehen...


„Tango Metropolis“ – so der Titel...
Assoziationen zu Tanz, Großstadt...

aber auch zum Getänzel der Brasilianer oder Afrikaner bei der WM...
soo weit sind wir vielleicht doch nicht geflohen...

Zuerst das obligatorisch Biografische...
Thomas Kellner,
1966 in Bonn geboren,
Kunststudium  bei Jürgen Königs an der Universität-Gesamthochschule Siegen mit Schwerpunkt Experimentelle Fotografie  und Sozialwissenschaften mit Staatsexamen für den höheren Schuldienst.
seit 1997 Freelenser und Künstler,
lebt in Siegen
1996 Kodak Nachwuchsförderpreis
1997 Kunstpreis der Stadt Düren
2003/04 Gastprofessur an der Justus-Liebig-Universität, Gießen
eine beeindruckende Liste von Ausstellungen und Stipendien, Publikationen.in vielen wichtigen Galerien und Sammlungen  in der alten und neuen Welt verteten...

ein von ihm geschaffenes Netzwerk befreundeter Künstler 
ist Zeichen für sein Miteinander –
nicht für das leider viel üblichere Gegeneinander...
oder noch viel häufigere  Eremitentum des “Ohnedenanderen” ...

Workbridges helfen ihm und den Partnerstädten von Siegen, Kunst als Völkerverständigung  zu praktizieren und Grenzen abzubauen...

Woher kommt Thomas Kellner?
Und woher dieser Jürgen Königs?

Nach seinem Studium an den Kölner Werkschulen und der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf wurde Königs 1976 Professor für Malerei, Fotografie und Grafik an der Universität-GH Siegen...
Sein Interesse galt experimenteller Fotografie und Malerei...
er spürte die Gesetze von Sofortbildern auf,
untersuchte mit seinen Studenten Lochkameraphänomene,
schuf multiperspektivische  Bildwelten,
vermittelte alte künstlerisch/ photographische Drucktechniken...

ein kurzer Einschub:
wir boten hier an der Stuttgarter VHS Anfang der AchtzigerJahre  bildmässige Camera Obscura-Seminare an, als das bestenfalls eine Unterrichtseinheit  im Physikunterricht war...

Zurück zu Jürgen Kellner...
Bis Ende der Neunziger Jahre Lochkamera-arbeiten:
„Quicksnaps“, Untersuchungen, wann sich fotografische Individualität verflüchtigt...
Cyanotypien von Olivenhainen..., blaue Edeldrucke...
Serien aus der heimischen Küche...“cosmic kitchen“, wobei er wohl Küchenustensilien sich selbst hat abbilden lassen...

dann „Landart“- oder besser Stadt-Art-Arbeiten der Serie „ Fassaden“, eine Verhüllung  - nur zeigt die verhüllende Hülle was sich darunter versteckte...

danach seine hier hängenden Arbeiten...

Architekturfotografie?
mit Sicherheit nicht, obwohl ich als Redner für heute Abend geholt wurde... fotografische Bilder, die Architektur benutzen – wohl...
und bei einigen Bildern  kommt vom Bau viel mehr Typisches des Objektes der Begierde mit aufs Bild, als ich es je mit einer Fachkamera leisten könnte...

Bilder, bei denen zuallererst der strenge Raster der genau übereinander kopierten Negativstreifen auffällt –
Bilder von Architekturen,
nicht landläufig abgebildet, nicht sofort erkennbar, identifizierbar...

Treten Sie ein wenig zurück – manches wird aus der Distanz lesbar, manches nur von ganz nah entzifferbar...


Die Technik scheint einfach...
Man nehme eine Kleinbildkamera und fotografiere ein Gebäude ...
Oben links mit der obersten Reihe beginnend, ein Bild nach dem andern,
danach die nächste Reihe, wieder von links nach rechts... and so on...

Ich erinnerte mich an den Innenraum einer barocken Klosterkirche auf dem Titel von Wilfried Dechaus Buch „Architektur abbilden“ von 1995...

Bild für Bild in horizontalen Linien fotografiert, kaum Überschneidungen, alles genau ausgezirkelt... – bei einem Bild vom Marktplatz in Schwäbisch Hall zeigt er die optischen Gesetze... wenn ich alles überflüssige wegschneide, bleibt ein Schnittmusterbogen übrig, der in eine Kugelkalotte hineinpasst – es ensteht wieder ein RundumBild von 180 grad...fisheye artig...

Das Auge dreht sich beim Abtasten der Gebäudeoberfläche...
Jede Augbewegung verändert die Perspektive,
unser Seh-apparat korrigiert den Übergang ...
wir sehen fliessende Linienveränderungen –
und selbst stark stürzende Linien empfinden wir als senkrecht...

bei den Dechauschen Photomosaiken war jedes einzelne Bild Beweis für diese sich verändernde Perspektive...
Diese Fotografien waren geniale Lehrbuchbeispiele, wie Sehen funktioniert...

Doch was macht Thomas Kellner?

Eigentlich  nichts anderes als Wilfried  Dechau 10 Jahre vorher...

und doch...

Kellner tanzt, dupliziert, überhöht,
er dreht, kontert...
er freut sich an der Oberfläche, dem interessantesten fotografischen Material,
er konstruiert , baut neu zusammen, was er vorher fragmentiert hat...
gewagt?  konstruktive Dekonstruktion... oder zerstörende Konstruktion...

Ich habe heute früh zusammen mit Andreas Langen die Bilder betrachtet...
Beim Anblick eines Bildes von Manhatten rief er spontan... 11.September... alles schien einzubrechen...

Auf einem Bild kommt rechts aussen sogar ein Flieger...

 


Wie sagte ich eingangs:
der Raster bestimmt diese Bilder...
die Bildanzahl des Kleinbildfilms die Bildgrössen
meist Teiler von 36...
in den neuesten Arbeiten sogar zwei Filme , also 72 Bilder breit...

Vorfahren...
Vielleicht etwas weit hergeholt : Photoromane... Comics...
Jedes Bild im eigenen Kästchen... zeitlich hintereinander ablaufend...

oder Peter Roehrs multiple Collagen aus den Sechzigern... 36 ausgeschnittene Kotflügel aus einer VW-Reklame zu einem Tableau montiert... 

Chuck Close, der ein Gesicht fotografisch sezierte und es aufblähte und aus zig Einzelbildern wiederzusammensetzte... Op-Art-Ikonen...

Oder David Hockney, der seinem Freund mit hunderten von Polaroids näher kommen wollte und dabei wundervolle Montagen, Collagen erfand...

Reinhold Misselbeck sah in Kellners Arbeiten Ansätze wie bei Robert Delaunays „Orphismus“ genannten Kubismus... ich zweifle hier...
vielleicht mögen die Auflösungen bestimmter Bilder an Delaunays Kreisbilder erinnern – wie die Bilder von Frank Lloyd Wrights Solomon Guggenheim  Museum in New York...
Delaunays Bilderwelt wird für mich durch den Farbraum und die Abstraktion bestimmt...

Collagen, Sukzessionen, Tableaux, Mosaiken...
all das schwingt in den Bildern von Thomas Kellner mit...

Was ist an seinen Bildern  neu?
Für mich  sind es geplante, choreographierte Bilder, die nicht mit dem Gebäude konkurrieren wollen, es nicht transportabel machen wollen... es auch nicht abbilden wollen...
sie wollen vergessen machen, dass sie wie ein Mosaik aus vielen Teilen bestehen...  sie wollen zu einem Bild zusammenschmelzen.

Weiter wichtig, obwohl wir es nicht sehen oder spüren:
das Zeitkontinuum, so wie wir das von der Malerei her kennen...
die Zeit zwischen dem ersten Bild links oben und dem letzten rechts unten,
bei kleinen Bildern eine Stunde, bei Nachtaufnahmen die halbe Nacht...


Seine Bilder sind bestens geprintet und präsentiert, fein ausgearbeitet,
er macht uns seine analoge Welt glauben ...  Kleinbildnegativfilme,
hintereinander belichtet...
bei nah hinschauen, taucht aber abundzu der neue Schutzheilige der Fotografen auf: der „heilige Photoshop“...

Wenn ich die Bilder durchgehe, bin ich in einem Weltmuseum interessanter Orte...
Köln ist ebenso verteten wie Rom, Athen, London, New York, Chicago...

Machen Sie sich die Mühe, kriechen Sie in die Bilder hinein, um sich am Reichtum zu erlaben, treten Sie zurück, um das Formenwirrwar zu ordnen und zum Gesamtbild werden zu lassen...

Entdecken Sie den Witz des kleinen englischen Schlosses aufgesetzt auf den grünen Sockel... es wird zum  Luftschloss...

Freuen sie sich am Bild von Stonhenge gegenüber, wo Sie viel mehr sehen als in Realität...
Ein Chaos von stürzenden Linien, Schrägen, die sich gegenseitig verkeilen...
Menschliche Zwerge, die auf mehreren Bildern hintereinander auftauchen...

Freuen sie sich am Neuzusammenbau des Lincoln Memorial in Washington hinter mir... im Original ein flacher griechisierender  Peripteros mit dorischen Säulen und einer darüberhinausüberragenden Cella...
Die Bodenzonen sind fest, objektnah, ohne Verdopplungen, ohne Verkippungen –
hier wimmeln die Besucher und mancheiner erscheint als Fragment in einer anderen Ecke – ein tragendes Fundament...
Der Tempel darüber wird fast zum flimmernden, weisses Quadrat, Säulenfragmente und Cellawand vernähen sich... spielen miteinander Versteck...tanzen...

Geniessen Sie die Welt des Time Square – Farbe, Leben, Zersplitterungen-
Schauen Sie...

Ich habe Lust bekommen, in die Tiefe zu dringen...

Ich will schliessen...  Ihnen einen schönen Abend...
die Bilder haben mich beflügelt...

 

Stuttgarter Zeitung 2006-07-03

Es gibt Motive, vor denen jeder ambitionierte Fotograf zurückschreckt: der Eiffelturm etwa oder die Golden Gate Brücke. Keine Chance, hier noch Ansichten zu finden, die es nicht schon millionenfach gibt. Verrückt, verschoben, zerbröselt und neu zusammengesetzt können diese Bauten aber doch noch sehenswerte Bilder abgeben - siehe oben. Unter dem Titel ..Tango Metropolis" lässt der Fotograf Thomas Kellner in der VHS-Fotogalerie die Architekturen tanzen - visuelle Schüttelreime am Rand des lustvollen Einsturzes, fast wie beim Kinderspiel mit Bauklötzen.

Thomas Kellner hat diese Darstellungsweise vor einigen Jahren für sich entdeckt. Der Weg dahin war nicht ohne Zweifel. Denn natürlich ist auch das fotografische Zerlegen und Rekomponieren längst von anderen Künstlern exerziert worden. Einer von ihnen, der Engländer David Hockney, hat Kellner fast zum Aufhören gebracht: 1997 sah Kellner Hockneys prächtige Polaroid-Tableaus zum ersten Mai im Original; danach wollte er die eigenen Collage-Versuche ad acta legen.

Zwei Jahre lang haderte Kellner mit dem unguten Gefühl, Bekanntes zu wiederholen, bis ihn der Kurator Reinhold Misselbeck vom Kölner Ludwig-Museum umstimmte. Kellner entschied sich, von der bis dahin favorisierten Schwarz-WeiB-Darstellung auf Farbfilm umzusteigen, und kurz danach meldeten sich große Bildagenturen und Museen, und fast täglich verkaufte seine Galeristin einen Abzug. Kellner, der Kunst fürs Lehramt studiert, aber dem sicheren Staatsdienst schon vor dem Referendariat den Rücken gekehrt hatte, konnte endlich die Jobberei in Fabriken und Call-Centern aufgeben.

Sein Erfolg dauert bis zum elften September 2001. Die kollabierenden Twin Towers hatten sich so im kollektiven Bildgedächtnis festgefressen, dass das europäische Publikum den Anblick tänzelnder Hochhäuser nicht mehr ertrug. Ganz anders die Amerikaner. ,,Ihre Bilder haben durch 9/11 eine neue' Bedeutung", so die US-Kuratoren beim Foto-Festival Houston 2002. Seitdem hat Kellner in den USA mehr Erfolg ais in Europa - und traute sich gar an die Golden Gate Brücke: solange es Rein Erdbeben in San Francisco gibt, ein schönes Bild. (lei)