Thomas Kellner, Zyklen, Villa Waldrich, Siegen, 1994
Ditmar Schädel, Zur Eröffnung der Ausstellung "Zyklen" von Thomas Kellner
In der Ausstellung "Zyklen" haben wir es mit drei Dingen zu tun: Mit einer Ausstellung fotografischer Bilder, die ausschließlich mit einer Lochkamera erzeugt wurden, mit dem jungen Künstler Thomas Kellner, der diese Arbeiten geschaffen hat und mit einem uralten Traum der Menschen. Ich möchte zunächst auf diesen Traum eingehen. Die Auseinandersetzung mit der sichtbaren Wirklichkeit, ihre Erfassung und Deutung und später die Wiedergabe in Form bildlicher Darstellung beschäftigt die Menschen, seit sie sich aus dem Tierreich zu einer denkenden, lernenden und über sich reflektierenden Spezies entwickelt haben. Als Zeichen für die immer noch bestehende Gültigkeit von Platos Höhlen-Gleichnis mag hier nur die heute wieder aktualisierte Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Bilder, mit denen wir uns täglich umgeben, angeführt werden, mögen diese in einem handwerklichen Prozess, einem Fotoapparat oder einem Computer entstanden sein. Ist es also schon immer eine Vision oder ein Wunsch gewesen, die sichtbaren Dinge dieser Welt, die gemachten Erfahrungen und Deutungen von ihr so zu bündeln und festzuhalten und diese anderen mitzuteilen, so mag es verwundern, dass mehrere Jahrhunderte vergehen mussten, bis die Fotografie als optimales Instrument diesem Anspruch genügen konnte. Und es ist umso verwunderlicher, dass sie etwas über 150 Jahre nach ihrer Erfindung bereits überflüssig erscheint und ihre Bilder, die Mitte des 19. Jahrhunderts so begeistert aufgenommen wurden und eine bis dahin nicht vergleichbare Ausbreitung fanden, schon antiquiert und angesichts virtueller Welten, Cyberspace und der weltweiten Umspannung durch elektronische Bildsysteme als nahezu überholt scheinen. Aber so einfach ist es dann doch nicht. Die Erfindung der Fotografie muss als ein Prozess angesehen werden, der weit vor den ersten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts beginnt und auf den ersten Beobachtungen der antiken Gelehrten und den daraus resultierenden Schlussfolgerungen beruht, dass ein Objekt durch ein kleines Loch auf eine in gerader Linie verlängerte querstehende Fläche projiziert wird. Diese von Aristoteles gewonnenen Erkenntnisse bilden sozusagen den Grundstock zur Fotografie oder eine Art Urkamera, wenn auch anfänglich nur in der geistigen Vorstellung. Im Laufe der Kulturgeschichte wird diese Beobachtung häufig wiederholt (so bei Ibn al Haitham, einem arabischen Gelehrten), durchdacht und zeichnerisch skizziert (von dem Mönch Athanasius Kircher) oder auch technisch bei dem Streben nach Naturtreue umgesetzt (z.B. bei Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer). Immer dient die Camera obscura dabei dem Zweck, unsere Welt besser und umfassender zu begreifen, sei es nur im Denkmodell oder als Zeichenhilfe, wie sie in unterschiedlicher Form und technische Ausstattung über lange Zeit genutzt wurde. Verschiedene Camerae obscurae waren auch in Form festinstallierter Räume als Bildungsinstrument oder Freizeitvergnügen auf öffentlichen Plätzen oder Schlossgärten zu sehen. Angesichts der langen Bemühungen um diese optische Hilfe und der verschiedenen Entwicklungsstufen bis zu den ersten chemischen Fixierungen der erhaltenen Bilder 1827 oder 1839 - je nachdem wo man die Erfindung der Fotografie ansiedelt - ist es dann aber doch erstaunlich, dass in einem relativ engen Zeitraum von etwa 20 Jahren viele unabhängig voneinander arbeitende Maler, Apotheker, Naturwissenschaftler oder - Künstler in mehreren Ländern Europas an einem praktikablen Verfahren zur Erzeugung fotografischer Bilder mittels der Lochkamera forschen und diese zum Teil auch realisieren können. So ist es nicht nur Niepce oder Daguerre zuzuschreiben, als der Erfinder der Fotografie zu gelten, auch Hippolyte Bayard oder Henry Fox Talbot würde diese Ehrung ebenso zustehen. Die Fotografie hat sich dann in verschiedenen Phasen zu dem entwickelt, was sie heute ist. Sie hat sofort nach der Proklamation ihrer Erfindung und der Übereignung an die Menschheit 1839 in Paris eine rasche Verbreitung, auch durch die geschäftliche Initiative von Daguerre, in Kreisen der Portraitmaler und die ersten Fotografen gefunden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts findet durch die industrielle Fertigung von Kameras, Filmmaterial und die ersten Großlabors auch eine Ausweitung auf den Amateurmarkt statt. Spätestens in der gesellschaftlichen Umbruchphase nach dem 1. Weltkrieg und den Umwälzungen und neuen Richtungen in der Bildenden Kunst findet die Fotografie Einzug in die kunstgeschichtliche Diskussion und trägt maßgeblichen Anteil zu den Ausrichtungen der verschiedenen, verkürzt gesagt Ismen bei. Entwicklungen aus Militärtechnik, Raumfahrt und zunehmend der Anteil von Elektronik führen zu den heute gängigen Kameraausstattungen, zu hohen Empfindlichkeiten der fotografischen Emulsionen und auch zu den vergleichsweise günstigen Preisen für ein Foto. Ein Bild, aufgenommen mit einer Filmempfindlichkeit von 45000 ASA oder heute Iso, einer Belichtungszeit von 1/8000 Sekunde und vergrößert für 39 Pfennig, ist heute auf dem Amateurmarkt ohne Probleme zu haben. Die entstandenen Aufnahmen können auf Compact Disc gepresst, in Datennetze eingespeist, in beliebige Vergrößerungen reproduziert und auf verschiedene Weise bearbeitet, verbreitet und präsentiert werden. Der Traum scheint also in Erfüllung gegangen. Was bewegt aber am vorläufigen Gipfelpunkt dieser Entwicklung immer noch Menschen, und dann auch häufig die zur kreativen Avantgarde zählenden Künstler dazu, sich auf eine frühe Stufe in diesem Prozess zu begeben und fotografische Bilder mit einer Lochkamera aufzunehmen? Auch Thomas Kellner, dessen Arbeiten hier ausgestellt werden, könnte uns seine Antwort darauf geben. Ebenso wie viele derjenigen, die zu diesem scheinbar anachronistischen Verfahren greifen, sucht er nach Möglichkeiten, die festgelegten Programme der handelsüblichen Apparate zu durchbrechen und experimentell zu neuen, individuellen Kameralösungen zu gelangen und damit ganz eigene Bilder, eben seine Sicht dieser Welt zu zeigen. Dabei ist nicht nur eine Abneigung gegen eine einschränkende High-End-Technologie gemeint. Thomas Kellner strebt dagegen einen Bildausdruck mit den minimal notwendigen Mitteln an oder beteiligt die Spezifika der Lochkamerafotografie an dem Entstehungsprozess seiner Arbeiten. Wie anderen Künstlern mit ähnlichen Ansätzen ist ihm hierbei eine Steuerung der einzelnen Prozessschritte vom Kamerabau über die Wahl des Materials bis zur Reproduktion und Präsentation der Ergebnisse wichtig. Wenn also der italienische Künstler Paolo Gioli Druckknöpfe zur Kamera umbaut, Thomas Bachler fotografische Bilder in einem Paket während des mehrere Tage dauernden Transports durch die Post aufnimmt oder gar das Filmmaterial durch ein kleines, mit den Lippen geformtes Loch seines eigenen Mundes belichtet, amerikanische Künstler eine Kokosnuss und die Pop-Ikone der Campbells Suppendose zur Lochkamera umfunktionieren, oder eben Thomas Kellner ein gefundenes Schneckengehäuse als "dunkle Kammer" verwendet, so wird hier die Bandbreite der möglichen Einflussnahme auf die Art der damit erzielten Bilder zumindest im Ansatz deutlich. Thomas Kellner arbeitet in Zyklen, wie der Titel seiner Ausstellung in der Villa Waldrich sagt, und meint damit verschiedene Formen des Umgangs auf diesem speziellen Gebiet künstlerischer Fotografie. Er entwickelt aber auch thematische Reihen. In seiner Reihe der Freunde, jeweils mit dem Vornamen betitelt, kommen über die in der konventionellen Kamerafotografie als Fehler angesehenen Unschärfen bei näherer Betrachtung die Wesenszüge der abgelichteten Personen eher zur Geltung als in einer Aufnahme, die durch die nicht veränderbaren Determinanten heutiger Einfach-Apparate festgelegt wird. Für diese Serie baut er eine Lochkamera aus der Quick-Snap, dem Film mit Linse, eines analog zu unserer Wegwerfgesellschaft auf die Spitze getriebenen Prinzips des "You press the button and we do the rest". Durch Mehrfachbelichtungen, Simultanbelichtungen oder durch die Belichtung eines kompletten Kleinbildfilmes in einer eigens konstruierten langen, röhrenförmigen Kamera bricht er die gängigen Regeln der Fotografie, greift in das Verhältnis von Abbild und Vorlage, Zeit und Räumlichkeit ein und gelangt so zu Ergebnissen, die den gewohnten Umgang mit Fotografie und deren Erzeugnissen in Frage stellen. Hierbei nimmt er die Gestaltungsspezifika seiner Lochkameras nicht nur billigend in Kauf, sondern sucht gerade nach den eigenen Abbildungsformen solcher Behältnisse. Der Zufall wird entscheidend in den Gestaltungsprozess einbezogen. In der Fotografie von Thomas Kellner spielt auch das Moment der Zeit eine wichtige Rolle, In einer einzigen Lochkameraaufnahme wird oft mehr Zeit erfasst als normalerweise in allen anderen Aufnahmen einer Person, sei es als Fotografierender oder als Modell. Die Bilder dieser Ausstellung sind also von mehreren Warten aus zu betrachten. Sie sind eine Reaktion auf Fotografie, wie sie uns heute vielfältig begegnet; sie haben eine inhaltliche Komponente und sie sind das Ergebniss eines vielschichtigen künstlerischen Prozesses. Thomas Kellner gibt sich aber nicht mit den puren Resultaten seiner Kameras zufrieden, sondern sucht in vielen seiner Arbeiten nach einer adäquaten Präsentationsform. Sei es durch die Einbeziehung von Umdruckverfahren wie Bromöldruck oder Cyanotypie, die in der so genannten Kunstfotografie eher Annäherungsversuche an die Malerei darstellten, oder durch die Rauminstallation mit Fotografie, wie sie in der jüngeren Zeit entwickelt worden sind. Als Beispiel für diese Form mag die jüngste Arbeit stehen, in der er das alte Verfahren der Panorama-Rotunde aufgreift und einen Rundumblick über die Siegener Oberstadt aus dem Turmzimmer der Villa Waldrich eröffnet. Immer wählt er die entsprechende Weiterführung oder Nachbearbeitung seiner Arbeiten. Die Motive Thomas Kellners sind dabei aber niemals beliebig oder gehorchen nur dem Prinzip des Aufnahmeverfahrens. Seine persönliche Stellungnahme wird besonders in der Serie "tierra quemada" deutlich. Die bedrohlich wirkenden Aufnahmen verbrannter Landstriche im Süden Europas sind nicht nur Hinweis auf Gefahren durch monokulturellen Landbau, sondern werfen uns auf unser Verhältnis zur uns umgebenden Welt zurück. Idealisierende, verklärende Landschaftsfotografie im herkömmlichen Sinne kann zwar die Schönheit und Erhabenheit von Natur betonen, lässt aber meist die nicht mehr zu leugnende Gefahr dieser Idylle durch Eingriffe des Menschen außer acht. Durch Perspektive, Nähe und die eigenartigen Verzerrungen der Lochkamera schwingen diese kritischen Gesichtspunkte in den hier gezeigten Bildern aus Spanien immer mit. Selbst die vordergründig als Urlaubsbilder zu bezeichnenden Aufnahmen von Menschen am Strand haben durch Perspektive und eigentümliche Farbigkeit immer auch den schalen Beigeschmack eines gebrochenen oder zumindest in Frage gestellten Verhältnisses zu unserer Welt. Dieses Verhältnis zur sichtbaren Welt, die Wahrnehmung einer hinter den äußeren Dingen gelegenen Wirklichkeit wird von Thomas Kellner in allen seinen Arbeiten thematisiert. Seine Lochkameraaufnahmen regen den Betrachter zu einer kritischen Überprüfung der eigenen Beobachtungen an und evozieren eine mehrschichtige Betrachtung und Deutung. Der anfangs angedeutete Traum gewinnt hier wieder an Aktualität.