Wiederaufbau durch Kontaktbögen von Thomas Kellner
Fotografische Verbindung geschaffen - Kontaktbögen montieren
Vor gut 290 Jahren wurde im russischen Ural, unweit von Newjansk, die Stadt Jekaterinburg gegründet, und zwar von dem aus Siegen stammenden Georg Wilhelm Henning und seinem Mitarbeiter Wassili Nikititsch Tatischtschew. Diese Gründungen standen im Zusammenhang mit dem Aufbau der Montanindustrie, die Henning auf Geheiß von Zar Peter I. im Ural etabliert hat. Diese Verbindung zwischen den beiden von der Eisen- und Stahlgewinnungsindustrie geprägten Regionen war hierzulande völlig in Vergessenheit geraten. Das änderte sich als das Metenkow-Haus, das Historische Museum Jekaterinburg mit seiner großen Fotografieabteilung, an den Siegener Fotokünstler Thomas Kellner wandte und ihn beauftragte, eine fotografische Verbindung zwischen beiden Städten und Regionen zu schaffen.
Neuer Blick auf die Industriearchitektur von Newjansk
Kunstinteressierte kennen Kellners Fotokunst: Seine Version des Bauwerks in Newjansk fügt sich aus mehreren Kontaktbögen zusammen. Es gewährt durch das Spiel mit der Perspektive einen ganz neuen, flirrenden Blick auf den abgebildeten Gegenstand. Anfänglich bauten sich die Kompositionen seiner Fotokunst als fotografische Montagen auf einem Negativ auf. Seit 1997 verwendet der Fotokünstler Thomas Kellner statt der Materialcollagen, geprintete Kontaktbögen für seine berühnten Fotokunst Montagen. Der Siegener Fotokünstler zerschneidet nach Entwicklung der Kontaktbögen diese in gleich lange Streifen und setzt sie zu einem großen Negativ zusammen. Kellners Handschrift ist bei der kompletten Ausstellung „Genius Loci“ unverkennbar. Sie ist auf seine Art und Weise abgelichtet und neu inszeniert. Er hat diesmal das ins Bild gerückt, was Deutschland und Russland nicht nur in Newjansk miteinander verbindet: Die Verarbeitung von Stahl und Metall sowie die architektonische Bauweise der Stahlindustrie. Künstlerisch-fotografisch setzt sich Kellner mit zwei wichtigen Wirtschaftsräumen auseinander und ruft so die vergessen Verbindung zwischen Siegen und dem Ural in Erinnerung.
So, wie andere historische Bauwerke, erlebt der schiefe Turm von Newjansk in Kellners Fotokunst eine Wiedergeburt: Dekonstruiert in seine Details, wie abgebaut in seine Ziegelsteine, fügt er sich Stück für Stück wieder zu einem neuen, modernen Kunstobjekt zusammen. Das alles passiert vor unseren Augen. Das architektonische Merkmal des für Newjansk typischen Turms, seine Schräge, würd durch Thomas Kellners Montage sowohl retouchiert als auch hervorgehoben. Er zeigt uns einen ganz neuen Blick auf die meist als rein funktional wahrgenommene Industriearchitektur. Die Faszination für die Gegend um Newjansk erfährt so eine Pointierung im Sinne des Zeitgeistes und der Zauber des Bauwerks lebt wieder auf.
Die Geschichte von Newjansk in einem Turm
57,5 Meter hoch schlängelt sich der schiefe Turm von Newjansk mit seiner gewundenen Treppe in den Himmel hinauf. Um 1730 wurde der sich neigende Turm von dem bekannten Industriellen im Ural, Akinfi Demidov, errichtet. Den Plan für den Bau hatte sein Vater Nikita Demidov vorher bereits erstellt. Dieser scheiterte jedoch an dem driftentenden Boden unter dem Fundament, der sehr wahrscheinlich auch der Grund für seine heutige Neigung ist: Die Spitze des Turms weicht von einem rechten Winkel um derzeit 1,85 Meter ab. Noch heute gilt das Bauwerk in Newjansk als eines der geheimnisvollsten Denkmäler der Architektur. Die Stützkonstruktion aus im Gebiet um Newjansk gefertigten Eisenprodukten ist für die damalige Zeit unglaublich fortschrittlich. Sie reicht bis auf das Turmdach hinauf, das mit einer einzigartigen englischen Uhr, einer Wetterfahne und einer vergoldeten Kugel mit Zacken gekrönt ist. Diese diente als Blitzableiter, noch lange bevor dieses Prinzip von Benjamin Franklin 1752 publiziert wurde. Um die Nutzung des Turmes von Newjansk kreisen seit je her die unterschiedlichsten Legenden: Es wird vermutet, dass er die Funktion eines Wachturms erfüllte, jedoch auch, dass sich darin ein chemisches Labor des Architekten befand. Heute beherbergt das Gebäude in Newjansk ein Geschichtsmuseum über die Besiedlung des Gebiets durch russische Einwanderer und die Ural-Hochofenmetallurgie. Der Turm ist somit das einzige Denkmal der Industriearchitektur im Ural. Durch die Fotokunst Montage aus Kontaktbögen von Thomas Kellner erfährt er eine neuformulierte Bedeutung.
Publikationen
Thomas Kellner (Hg.), Thomas Kellner. Genius loci - Zwei Siegener im Zarenland, Lüdenscheid, Berlin 2013.
Metenkov House Museum of Photography (Hg.), Thomas Kellner. genius loci, Jekaterinburg 2014.
Ich hoffe das waren nützliche Informationen zu Russland.
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