Kunst Chemnitz präsentiert die Kapellenschulen in der Heck-Art-Galerie
Am 18. Januar eröffnete Kunst für Chemnitz in der Heck-Art-Galerie die Ausstellung Thomas Kellner Kapellenschulen. Thomas Ranft, der zweite Vorsitzende sprach mit Thomas Kellner in einem Künstlergespräch vor dem zahlreich erschienen Publikum über die nassauischen Kapellenschulen, die analoge Fotografie des Kontaktbogens und Kellners Technik der Dekonstruktion.
Kunst Chemnitz und die Kapellenschulen
In 49 Bildern thematisiert der Künstler Thomas Kellner zwischen Kunst und Dokumentation schwankend einen Teil unserer regionalen Geschichte. Die Kapellenschulen bilden einen solitären Architekturtypus für das Siegerland und angrenzenden Regionen. Als einzelnstehende und in ihrer Umgebung auffällige Gebäude legen sie die Verbindung zwischen Kirche und Staat ausgehend vom Herrschaftsgebiet des Grafen Wilhelm von Nassau-Dillenburg (* 10. April 1487 in Dillenburg; †6. Oktober 1559 ebenda) offen.
Nachdem sich Kellner bereits in seiner Werkserie Genius Loci mit der Siegener Industriekultur in Form von industrieller Architektur gewidmet und sich mit den Fachwerkhäusern des Siegener Industriegebietes auf die Spuren von Bernd und Hilla Becher beschäftigt hat, ergänzen die Kapellenschulen seine künstlerische Verarbeitung der regionalen Architekturlandschaft. Umgesetzt wurden die Kapellenschulen im für Kellner typischen kubistisch-dekonstruierten Stil, der von Prof. Dr. Irina Chmyreva als ‚Visuell analytische Synthese‘, oder von Prof. Dr. Rolf Sachsse als ‚Moderner Manierismus ‘ bezeichnet wurde und das Motiv optisch in Bewegung versetzt.
Kapellenschulen sind Bauten, in denen sowohl Gottesdienst als auch schulischer Unterricht abgehalten wurde und die daher die enge Verbindung zwischen Kirche und Staat widerspiegeln. Initiator war Graf Wilhelm von Nassau-Dillenburg, der 1532 die Pfarrer anwies an Feiertagsnachmittagen die sieben- bis vierzehnjährigen Kinder an einem zentralen Ort zu unterrichten. Dieses Konzept wurde ausgeweitet, sodass letztendlich in nahezu jedem Dorf eine Kapellenschule errichtet wurde. Schule und Gottesdienstraum wurden folglich in einem Gebäude vereint, die Räume konnten darüber hinaus aber auch für weitere Zwecke genutzt werden. Damit war die Kapellenschule ein multifunktionales Gebäude, das bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert und in Teilen sogar bis ins 20. Jahrhundert genutzt wurde. Typisch ist ihr Aussehen, ein Fachwerkgebäude, häufig verschiefert und oftmals mit einem kleinen Türmchen für die Glocke versehen.
Unterstützt wurde das Projekt während der Recherche und Umsetzung durch Stipendien des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und Neustart Kultur der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien durch die Stiftung Kulturwerk der VG Bild-Kunst. Jetzt zeigt Kunst Chemnitz die Kapellenschulen in Chemnitz
Die nassauischen Kapellenschulen bei Kunst Chemnitz
Die Kapellenschulen bilden einen solitären Architekturtypus, der die Verbindung zwischen Religion und schulischer Bildung offenlegt. In einem Gebäude vereinen sich demzufolge Gottesdienst und schulischer Unterricht, was die Kapellenschulen als hybrid genutzte Bauwerke klassifiziert. Der Terminus Kapellenschule resultierte aus der partiellen Integration der Schulen in bereits bestehende Kapellen und hat sich vor allem im Siegerland und den angrenzenden Gebieten infolge geografischer und politischer Verbindungen etabliert. Die künstlerische Auseinandersetzung mit den Kapellen-schulen möchte dieses regionaltypische Kulturgut über ein neues Medium bewahren und in Erinnerung rufen. Nicht zuletzt hat die geschichtliche Unkenntnis und mangelndes Interesse zum Verkauf, Abriss oder Umbau einer Großzahl baufälliger Kapellenschulen in der Nachkriegszeit geführt. In 49 Motiven widmet sich Thoms Kellner daher einem regionalen und kultur-historischen Thema: den Kapellenschulen.
Das architektonische Erscheinungsbild
Die hybride Nutzung der Kapellenschulen ist architek-tonisch verankert und zeigt sich in einem Gebäudetypus, der zwischen Profan- und Sakralbau schwankt. Das äußere Erscheinungsbild der Kappelenschulen ist nicht religionsgebunden und gibt weder durch die Fassaden-gestaltung oder Baukonstruktion noch durch die Raum-aufteilung Aufschluss über die konfessionelle Zugehörigkeit. Die Bauten bestechen vornehmlich durch ihre zweckdienliche Bauweise. Auf die religiöse Nutzung verweisen lediglich ein Dachreiter mit Glocke und stellenweise ein Fünfachtelabschluss des Chores sowie die Ausgestaltung des Innenraums, die zumindest im Inneren Rückschlüsse auf die Konfession zulässt. Die Kapellenschule war über den schulischen und religiösen Gebrauch hinaus ein multifunktionaler Ort für die Gemeinde, was bis heute fortgesetzt wird. Denn gerade die Nähe der Kapellenschulen zu bürgerlichen Wohn-bauten begünstigte eine Loslösung aus dem religiösen Kontext und ermöglichte eine Nutzungsänderung, nachdem die Gebäude für den schulischen Unterricht zu klein geworden waren.?
Wilhelm I. und Johann VI.
Als Initiatoren der Kapellenschulen gelten Graf Wilhelm I., genannt der Reiche, und sein Sohn Johann VI., genannt der Ältere. Wilhelm, der 1521 auf dem Reichstag zu Worms selbst miterlebt hatte, wie Luther seine Thesen und Schriften nicht widerrief, ebnete dem reformierten Glauben in seinem Herrschaftsgebiet den Weg. Während er bereits 1518 Maßnahmen gegen den Ablasshandel einführte, wurde erst mit der Einführung der Brandenburg-Nürnbergischen Kirchenordnung 1534 die lutherische Reformation in der Grafschaft herbeigeführt. 1578 führte sein Sohn Johann VI. das reformierte Bekenntnis in Nassau-Dillenburg und Nassau-Siegen ein. Im Laufe seiner Regierungszeit erfuhren Glaube und Bildung eine besondere Bedeutung, sodass er als Förderer der Schulen und insofern ab 1567 der Kapellen-schulen gilt. Der davon ausgehende flächendeckende Aufbau von Schulen mit Unterricht für Jungen und Mädchen sowie die zunehmende Vereinheitlichung der Lehre war Teil und Antrieb der Alphabetisierung.
Die Rolle des Glaubens
Als unter Johann VI. 1578 das reformierte Bekenntnis in Nassau-Dillenburg und Nassau-Siegen einsetzte, stand die Bevölkerung innerhalb von 44 Jahren vor einem zweiten Bekenntniswechsel. Teile der Bevölkerung standen dem damit verbundenen neuen Ritus kritisch gegenüber, grundsätzlich war der Wechsel aber im Einverständnis mit dem Rat der Stadt Siegen geschehen. Dieser trat nämlich nicht nur als Unterstützer, sondern als Initiator der Hinwendung zum Reformiertentum hervor. Der Bekenntniswechsel war Auslöser für eine Bildungsoffensive seitens Johanns VI., die zum Ziel hatte die Theologie des Katechismus und den reformierten Glauben mittels Unterrichts an die Bevölkerung heranzutragen. In Kapellenschulen wurde Jungen und Mädchen, zweifelslos anhand des Katechismus, das Lesen und Schreiben gelehrt. Ab 1624 unternahm Johann VIII. den Versuch die Erblanden zu rekatholisieren. Erfolg hatte er damit nur in Netphen und in Teilen der Stadt Siegen.
Kellners Kapellenschulen
Indem Thomas Kellner das Kulturgut Kapellenschule durch das Medium Fotografie in einen schöpferischen Rahmen überführt, gibt er dem in vielerlei Hinsicht historischen Thema eine neue Dimension in der Gegenwart(skunst). Technisch knüpft er dabei an elementare Strukturen der Architektur der Kapellen-schulen sowie deren hypride Nutzung, verkörpert durch Religion und schulische Bildung, an. So findet sich das Raster der von Kellner verwendeten Kontaktbögen in dem offenen Fachwerk oder der Schieferverkleidung der Fassaden wieder, reihen sich die diversen Kippmomente im Bild in die multifunktionale Nutzung der Räumlich-keiten ein, reflektiert die multiperspektivische Umsetzung vor allem die Wechselbeziehung zwischen religiösem und schulischem Gebrauch. Der Blick auf die Vergangenheit funktioniert immer nur aus einer gegenwärtigen Perspektive. Kellner nutzt dafür seine fotokünstlerische Position und versteht es, den Blick auf die Kapellenschulen neu zu denken und gleichzeitig seiner eigenen schöpferischen Vergangenheit treu zu bleiben.
Thomas Kellner - Kapellenschulen. Auf den Spuren der nassauischen Grafen Wilhelm I. und Johann VI.
13.11.2022 – 11.2.2023 Artgalerie, Siegen
10.11. –01.12.2023 Galerie Grevy, Köln
18.01.–23.02.2024 Kunst für Chemnitz e. V., Chemnitz
Informationen zu den Kapellenschulen bei Kunst Chemnitz
Kapellsnchulen
18. Januar – 24. Februar 2024
Kunst für Chemnitz in der Heck-Art-Galerie, Chemnitz
Heck-Art-Galerie
Mühlenstraße 2
DE 09111 Chemnitz
Öffnungszeiten
Di. – Do. von 11 bis 17 Uhr
und nach Vereinbarung
Tel.: +49 371 6446766
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Web: www.kunstfuerchemnitz.de