Die Kapellenschule bundesweit einzigartige Architektur

Die Kapellenschule. In den Fußstapfen der nassauischen Grafen Wilhelm I. und Johann VI. Zwischen Schule und Heimatstube

Die Kapellenschule. Eine fesselnde Erkundung von Bildungseinrichtungen und ihrer historischen Bedeutung

In 49 Bildern und einigen Texttafel thematisiert der Künstler zwischen Kunst und Dokumentation schwankend einen Teil regionaler Geschichte. Die Kapellenschulen bilden einen solitären Architekturtypus für das Siegerland und angrenzenden Regionen. Als einzelnstehende und in ihrer Umgebung auffällige Gebäude legen sie die Verbindung zwischen Kirche und Staat ausgehend vom Herrschaftsgebiet des Grafen Wilhelm von Nassau-Dillenburg (* 10. April 1487 in Dillenburg; †6. Oktober 1559 ebenda) offen.

Architektonische Evolution enthüllt: Kellners künstlerische Auseinandersetzung mit der Siegener Industriekultur und den Kapellenschulen

Die künstlerisch-fotografische Auseinandersetzung mit den Kapellenschulen fußt auf der Idee, dieses regionaltypische Kulturgut über ein modernes Medium zu bewahren, in Erinnerung zu rufen und national wie international bekannt zu machen. Nicht zuletzt hat die geschichtliche Unkenntnis und mangelndes Interesse zum Verkauf, Abriss oder Umbau einer Großzahl baufälliger Kapellenschulen in der Nachkriegszeit geführt. Nachdem sich Kellner bereits in seiner Werkserie Genius Loci mit der Siegener Industriekultur in Form von industrieller Architektur gewidmet und sich mit den Fachwerkhäusern des Siegener Industriegebietes auf die Spuren von Bernd und Hilla Becher beschäftigt hat, ergänzen die Kapellenschulen seine künstlerische Verarbeitung der regionalen Architekturlandschaft. Umgesetzt wurden die Kapellenschulen im für Kellner typischen kubistisch-dekonstruierten Stil, den Prof. Dr. Irina Chmyreva als ‚Visuell analytische Synthese‘ bezeichnete und das Motiv optisch in Bewegung versetzt.

Kapellenschulen: Bildung und Gottesdienst in historischen Fachwerkgebäuden vereinen

Kapellenschulen sind Bauten, in denen man sowohl Gottesdienst als auch Unterricht für Schülerinnen und Schüler abgehielt und die daher die enge Verbindung zwischen Kirche und Staat widerspiegeln. Initiator war Graf Wilhelm von Nassau-Dillenburg, der 1532 die Pfarrer anwies an Feiertagsnachmittagen die sieben- bis vierzehnjährigen Kinder an einem zentralen Ort zu unterrichten. Dieses Konzept wurde ausgeweitet, sodass letztendlich in nahezu jedem Dorf eine Kapellenschule errichtet wurde. Schule und Gottesdienstraum wurden folglich in einem Gebäude vereint, die Räume konnten darüber hinaus aber auch für weitere Zwecke genutzt werden. Damit war die Kapellenschule ein multifunktionales Gebäude, das bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert und in Teilen sogar bis ins 20. Jahrhundert genutzt wurde. Typisch ist ihr Aussehen, ein Fachwerkgebäude, häufig verschiefert und oftmals mit einem kleinen Türmchen für die Glocke versehen. Häufig erbaute man das Schulgebäude als Kapellenschule mit einem Obergeschoss für die Andacht und ein Schulzimmer unten für die Nutzung im Winter.

Im Zuge der Recherche wurden rund 60 Kapellenschulen gefunden, zu denen bereits nicht mehr vereinzelte Niederlassungen in Sachsen, Norddeutschland, den Niederlanden und Österreich zählen. Diese wurden auf 49 Motive eingegrenzt, die sich an folgenden Standorten befinden: Afholderbach, Alertshausen, Arborn, Beienbach, Bellersdorf, Birkefehl, Breitenbach, Breitenbach-Ehringshausen, Buchen-Sohlbach, Dotzlar, Eckmannshausen, Eisern, Fellerdilln, Feuersbach, Flammersbach, Grissenbach, Grund, Helberhausen, Hemschlar, Hesselbach, Hohenroth, Kredenbach, Laaspherhütte, Lippe, Littfeld, Nenkersdorf, Netphen, Oberdielfen, Oberschelden, Obersetzen, Odersberg, Plittershagen, Rehe, Richstein, Rinsdorf, Rodenroth, Ruckersfeld, Sassenhausen, Schwarzenau, Tringenstein, Trupbach, Volnsberg, Wahlbach, Waigandshain, Werthenbach ( Freilichtmuseum Detmold), Wiederstein, Wingeshausen, Wunderthausen, Zinse. (Die Kapellenschule Gütersloh zählt nicht hinzu)

Zuschüsse zur Förderung von künstlerischer Innovation und Ausstellungserfolg

Unterstützt wurde das Projekt während der Recherche und Umsetzung durch Stipendien des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und Neustart Kultur der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien durch die Stiftung Kulturwerk der VG Bild-Kunst.

Kellner's Kapellenschule in der Bewertung

„Die Entrücktheit, die die historischen Gebäude durch die künstlerischen Bildwerke von Thomas Kellner gewinnen, weckt aber Interesse an jedem Gebäude und seiner speziellen Geschichte." Christiane Cantauw, Ungewohnte Sicht auf Siegerländer Kapellenschulen, unter: web.archive.org/web/20230220085532/https://www.alltagskultur.lwl.org/de/blog/siegerlaender-kapellenschulen/.

Kapellenschule des Siegerlandes und benachbarter Länder

Kapellenschule

Die Kapellenschulen bilden einen solitären Architekturtypus, der die Verbindung zwischen Religion und schulischer Bildung offenlegt. In einem Gebäude vereinen sich demzufolge Gottesdienst und schulischer Unterricht, was die Kapellenschulen als hybrid genutzte Bauwerke klassifiziert. Der Terminus Kapellenschule resultierte aus der partiellen Integration der Schulen in bereits bestehende Kapellen und hat sich vor allem im Siegerland und den angrenzenden Gebieten infolge geografischer und politischer Verbindungen etabliert. Die künstlerische Auseinandersetzung mit den Kapellenschulen möchte dieses regionaltypische Kulturgut über ein optisches Medium bewahren und in Erinnerung rufen. Nicht zuletzt hat die geschichtliche Unkenntnis und mangelndes Interesse zum Verkauf, Abriss oder Umbau einer Großzahl baufälliger Kapellenschulen in der Nachkriegszeit geführt. In 49 Motiven widmet sich Thoms Kellner daher einem regionalen und kulturhistorischen Thema: den Kapellenschulen.

Das architektonische Erscheinungsbild der Kapellenschule

Die hybride Nutzung der Kapellenschulen ist architektonisch verankert und zeigt sich in einem Gebäudetypus mit Glockenturm, der zwischen Profan- und Sakralbau schwankt. Das äußere Erscheinungsbild der Kappelenschulen ist nicht religionsgebunden und gibt weder durch die Fassadengestaltung oder Baukonstruktion noch durch die Raumaufteilung Aufschluss über die konfessionelle Zugehörigkeit. Die Bauten bestechen vornehmlich durch ihre zweckdienliche Bauweise.  Auf die religiöse Nutzung verweisen lediglich ein Dachreiter mit Glocke und stellenweise ein Fünfachtelabschluss des Chores und die Ausgestaltung des Innenraums, die zumindest im Inneren Rückschlüsse auf die Konfession als evangelische oder katholische Grundschule zulässt. Die Kapellenschule war über den edukativen und religiösen Gebrauch für  Gottesdienste hinaus ein multifunktionaler Ort für die Gemeinde, was bis heute fortgesetzt wird. Denn gerade die Nähe der Kapellenschulen zu bürgerlichen Wohnbauten begünstigte eine Loslösung aus dem religiösen Kontext und ermöglichte eine Nutzungsänderung, nachdem die Gebäude für den Unterricht zu klein geworden waren. Die meisten dienen heute auf Initiative der Dorfbewohner als Heimatstube e.V. . Die meisten dienen heute auf Initiative der Dorfbewohner als Heimatstube e.V. . Häufig werden Sie mit einer Kücheneinrichtung des 19. Jahrhunderts und verschiedene kleinere Alltagsgegenstände und Werkzeuge eingerichtet und erzählen an Hand der Werkzeuge aus Hauberg und Landwirtschaft sowie zum Bergbau, von der Geschichte mit Bergbau und zur Hüttenindustrie.

Wilhelm I. und Johann VI.

Als Initiatoren der Kapellenschulen gelten Graf Wilhelm I., genannt der Reiche, und sein Sohn Johann VI., genannt der Ältere. Wilhelm, der 1521 auf dem Reichstag zu Worms selbst miterlebt hatte, wie Luther seine Thesen und Schriften nicht widerrief, ebnete dem reformierten Glauben in seinem Herrschaftsgebiet den Weg. Während er bereits 1518 Maßnahmen gegen den Ablasshandel einführte, wurde erst mit der Einführung der Brandenburg-Nürnbergischen Kirchenordnung 1534 die lutherische Reformation in der Grafschaft herbeigeführt. 1578 führte sein Sohn Johann VI. das reformierte Bekenntnis in Nassau-Dillenburg und Nassau-Siegen ein.  Im Laufe seiner Regierungszeit erfuhren Glaube und Bildung eine besondere Bedeutung, sodass er als Förderer der Schulen und insofern ab 1567 der Kapellenschulen gilt. Der davon ausgehende flächendeckende Aufbau von Schulen mit Unterricht für Jungen und Mädchen sowie die zunehmende Vereinheitlichung der Lehre war Teil und Antrieb der Alphabetisierung.

Die Rolle des Glaubens

Als unter Johann VI. 1578 das reformierte Bekenntnis in Nassau-Dillenburg und Nassau-Siegen einsetzte, stand die Bevölkerung innerhalb von 44 Jahren vor einem zweiten Bekenntniswechsel. Teile der Bevölkerung standen dem damit verbundenen neuen Ritus kritisch gegenüber, grundsätzlich war der Wechsel aber im Einverständnis mit dem Rat der Stadt geschehen.  Dieser trat nämlich nicht nur als Unterstützer, sondern als Initiator der Hinwendung zum Reformiertentum hervor. Der Bekenntniswechsel war Auslöser für eine Bildungsoffensive seitens Johanns VI., die zum Ziel hatte die Theologie des Katechismus und den reformierten Glauben mittels Unterrichts an die Bevölkerung heranzutragen. In Kapellenschulen wurde Jungen und Mädchen, zweifelslos anhand des Katechismus, das Lesen und Schreiben gelehrt. Ab 1624 unternahm Johann VIII. den Versuch die Erblanden zu rekatholisieren. Erfolg hatte er damit nur in Netphen und in Teilen der Stadt.

Kellners Kapellenschule im Foto

Indem Thomas Kellner das Kulturgut Kapellenschule durch das Medium Fotografie in einen künstlerischen Rahmen/Kontext überführt, gibt er dem in vielerlei Hinsicht historischen Thema eine heutige Dimension in der Gegenwart(skunst). Technisch knüpft er dabei an elementare Strukturen der Architektur der Kapellenschulen sowie deren hypride Nutzung, verkörpert durch Religion und schulische Bildung, an. So findet sich das Raster der von Kellner verwendeten Kontaktbögen in dem offenen Fachwerk oder der Schieferverkleidung der Fassaden wieder, reihen sich die diversen Kippmomente im Bild in die multifunktionale Nutzung der Räumlichkeiten ein, reflektiert die multiperspektivische Umsetzung vor allem die Wechselbeziehung zwischen religiösem und schulischem Gebrauch. Der Blick auf die Vergangenheit funktioniert immer nur aus einer gegenwärtigen Perspektive. Kellner nutzt dafür seine fotokünstlerische Position und versteht es, den Blick auf die Kapellenschulen neu zu denken und gleichzeitig seiner eigenen künstlerischen Vergangenheit treu zu bleiben. 

Thomas Kellner (hier vor der Kapellenschule Obersetzen)

Thomas Kellner wurde 1966 in Bonn geboren. Er studierte Kunst, Soziologie, Politik und Wirtschaft an der Universität. 1996 erhielt für seine Serie von Lochkameraaufnahmen Deutschland – Blick nach draußen den Kodak Nachwuchs-Förderpreis, der ihn zu einem Leben als Fotokünstler ermutigte. Seitdem lebt und arbeitet Kellner als Künstler und Kurator fotografischer Ausstellungsprojekte. Seit 1993 zeigt Kellner seine Arbeiten in weltweiten Einzelausstellungen, unter anderem in Deutschland, Australien, England, Russland, China, Frankreich, Island, Polen, Dänemark, Brasilien, Syrien, Spanien sowie in den USA und ist an zahlreichen Gruppenausstellungen und Publikationen beteiligt. Seine Arbeiten sind in bedeutenden privaten und öffentlichen Sammlungen wie etwa dem Art Institute of Chicago, dem Museum of Fine Arts in Houston, dem Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro, dem Baltimore Museum of Art, dem Fox Talbot Museum in der Lacock Abbey und dem George Eastman Museum in Rochester vertreten. 2003 wurde er in die Deutsche Gesellschaft für Photographie (DGPh) berufen.

Ausstellungen der Kapellenschulen

Kunst für Chemnitz, Chemnitz
18. Januar – 24. Februar 2024

 

Scholl-Stiftung im Kunstraum Grevy
10.–24. November 2023

 

Artgalerie, Siegen
13. November 2022 – 11. Februar 2023

Das Buch zur Kapellenschule für die Heimatstube

Im Seltmann Verlag, Berlin, ist ein zweisprachiger Katalog mit 208 Seiten erschienen, mit Textbeiträgen von Chiara Manon Bohn, Isabell Eberling M. Sc., Dr. Andrea Gnam und Dr. Stefanie Siedek-Strunk. Er kann beim Verlag seltmann publishers oder im Shop bestellt werden.

 

Publikationen über die Kapellenschule von Thomas Kellner

Monographien

Oliver Seltmann (Hg.), Thomas Kellner – Kapellenschulen. Auf den Spuren der nassauischen Grafen Wilhelm I. und Johann VI., Berlin 2022.

Zeitschriften und Magazine

Melanie Heider, Regionalgeschichte für die Zukunft erhalten, in: Top Magazin Siegen Wittgenstein, 17, Heft 4, 2022, 10–11.
Elmar Zorn, Thomas Kellner: Kapellenschulen. Solitäre Architektur als historische Verbindung zwischen Kirche und Staat. Ausstellung in der Artgalerie in Siegen bis zum 10. Februar, in: Art Profil, 28, Heft 150, 2022, 16–17.

Zeitungsartikel

Siegener Zeitung, Thomas Kellner und die Kapellenschulen, in: Siegener Zeitung, 15.11.2022, 21.
Siegener Zeitung, Fachwerk, Kapellenschulen, Portraits. Thomas Kellner setzt fotografische Themen in der Region: Bechers und Sander neu interpretiert, in: Siegener Zeitung, 6.1.2022, 20.
Axel Williams, Türmchentanz mit Relevanz. Foto-Künstler Thomas Kellner lernte die Heimat bei seinem Projekt „Kapellenschulen“ neu kennen, in: Siegerländer Wochen-Anzeiger, 21.1.2023, 2.

Fernsehbeiträge

Anke Rebbert, Das Besondere im Vertrauten – der Fotograf Thomas Kellner 2021.

Radiobeiträge

Anke Rebbert, Unterwegs mit Thomas Kellner 2021.

Online-Publikationen

Christiane Cantauw, Ungewohnte Sicht auf Siegerländer Kapellenschulen, unter: web.archive.org/web/20230220085532/https://www.alltagskultur.lwl.org/de/blog/siegerlaender-kapellenschulen/.
Gunhild Müller-Zimmermann, Fachwerk, Kapellenschulen, Portraits. Thomas Kellner fotografiert in der Region, unter: web.archive.org/web/20220106154629/https://www.siegener-zeitung.de/siegen/c-kultur/thomas-kellner-fotografiert-in-der-region_a260876.
Thomas Wolf, Ausstellung: Thomas Kellner Kapellenschulen, unter: web.archive.org/web/20221115130924/https://www.siwiarchiv.de/ausstellung-thomas-kellner-kapellenschulen/.

Danke für die Förderung

Unterstützt wurde das Projekt während der Recherche und Umsetzung durch Stipendien des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und Neustart Kultur der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien durch die Stiftung Kulturwerk der VG Bild-Kunst.

 

Wo findet man die Kapellenschulen?